Fassaden, Portale und Kapitelle im Poitou, der Saintonge und Angoumois (Frankreich)


Portale und Fassade der Kathedrale St-Pierre in Angoulême


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Angoulême, Kathedrale St-Pierre
Weithin ist die Kathedrale von Angoulême sichtbar, erhebt sich doch die Altstadt auf einem Kalkfelsen hoch über die Umgebung. Das Plateau ist seit langem besiedelt, unter den Karolingern wurde Angoulême schließlich Hauptstadt einer neu erhobenen Grafschaft Angoumois.
Der Baubeginn der heutigen Kathedrale fällt in die Zeit um 1110/1115, nachdem hier bereits mehrere Vorgängerbauten standen. Anders als sonst üblich, wurde diesmal im Westen mit der Fassade begonnen und dann von West nach Ost fortschreitend weitergebaut. Für das Jahr 1128 ist (nach erstaunlich kurzer Bauzeit!) eine Abschlussweihe überliefert, doch an der Fassade wurde noch bis etwa 1136 weiter gearbeitet. Grund dafür ist "...zweifelsohne, dass all die bildhauerischen Arbeiten - egal ob figürlich oder ornamental -, die in Angoulême fast die ganze Fassade bedecken, weit zeitaufwändiger waren als die bloße Bereitstellung von simplen, allein für die Aufrichtung der Architektur benötigten Steinen". (1, Christoph Brachmann)

Die Westfassade


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Die Westfassade von St-Pierre ist als gewaltige Schauwand konzipiert und zeigt mit ihrem Dekor und ihren 75 Figuren den größten skulpturalen Reichtum unter den romanischen Kirchen Frankreichs.
1 - Christus in der Mandorla, umgeben von den vier Evangelistensymbolen
2 - Engel
3 - Auserwählte
4 - Maria
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zentraler Bereich der Fassade
5 - Apostel
6 - Teufel und Verdammte
7 - zwei Reiterstandbilder
8 - Apostel
9 - Fries mit Reiterkampf
Die Grundstruktur für das Figurenprogramm der Fassade bilden 5 große Blendbögen. Sie ruhen auf Halbsäulen, die beiden äußeren Bögen sind dabei schmaler als der mittlere und reichen bis zur Traufe des Langhauses. Dabei ist anzumerken, dass der obere dreieckige Giebel und die beiden seitlichen Turmgeschosse Ergänzungen der Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts sind.
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Jedem der Bögen ist im unteren Bereich ein weiterer Bogen eingefügt, so dass die vier äußeren Scheinportale bilden, der mittlere das (im 19. Jahrhundert erneuerte bzw. veränderte) Hauptportal einfasst. Dieser breitere und größere mittlere Bogen ist die zentrale Achse und enthält die zu verkündende Botschaft: Es ist die Himmelfahrt Christi, verbunden mit der Ankündigung seiner Wiederkehr! Ein solches Figurenprogramm ist für die Zeit einzigartig. Schauen wir uns einige Details näher an.

Christi Himmelfahrt
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Das ist der Höhepunkt der Botschaft: Christus schwebt in der Mandorla nach oben, Engel öffnen ihm den (durch Wellenlinien angedeuteten) Himmel. Umgeben wird Christus von den Symbolen der vier Evangelisten (Adler, geflügelter Mensch oder Engel, geflügelter Stier und geflügelter Löwe - Johannes, Matthäus, Lukas und Markus).

Engel
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Die Engel darunter verfolgen das Geschehen und lassen keinen Zweifel am Aufstieg in die himmlischen Sphären. Während die beiden mittleren ihre Handflächen erhoben haben, deuten die zwei anderen dezidiert nach oben. Die beiden äußeren jedoch wenden sich an die Betrachter unten auf der Erde (die Apostel), zeigen nach unten und verkünden die Botschaft "Er wird wiederkommen".

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"Dahin, nach unten kommt er wieder...", "Seht nach oben, da fährt er hin..."

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Ikonographisch werden mehrere Themen miteinander verknüpft: Außer der "Himmelfahrt" und der Ankündigung der Rückkehr, kann der Betrachter den von den Evangelistensymbolen umgebenen Christus in der Mandorla auch mit dem Jüngsten Gericht verbinden, schließlich wird das "Weltgericht" häufig in den Tympana (zum Beispiel in Moissac) der damaligen Zeit dargestellt.
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Die Identifizierung der anderen Figuren ist nicht immer eindeutig. Nach der Himmelfahrt bleiben die Apostel zurück, sie sollen ja die Botschaft verbreiten. Die oberen Figuren in den vier Blendbögen könnten also die Apostel darstellen, es könnten aber auch andere Auserwählte sein, vielleicht Propheten. Sie schauen alle nach oben zu Christus, einige verdrehen verzückt ihre Körper im Tanzschritt.

Auserwählte, Apostel, Dämonen und Verdammte
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oben: acht Auserwählte, unten: Verdammter mit Dämon, vier Apostel, Dämon und Verdammter (v.l.n.r.)

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Maria, die Muttergottes
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ein Dämon
Die Figuren darunter sind jeweils in einen eigenen Bogen eingestellt. Bei den zwölf Figuren der beiden inneren Blendbögen und des zentralen Bogens mit dem großen Mittelfenster handelt es sich um elf männliche und eine weibliche Figur, die als 11 (!) Apostel und Maria gedeutet werden. Die vier Gestalten links und rechts außen weichen deutlich von diesen ab: es sind zwei Dämonen (oder Teufel, an ihrem Flammenhaar erkennbar) und ganz außen (am weitesten von Christus entfernt) zwei Verdammte. Schauen wir noch einmal genau hin!

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Die Tatsache, dass es sich um elf Apostel handelt, deutet wiederum auf die Himmelfahrt, denn der ursprüngliche zwölfte Jünger ist ja da nicht mehr dabei...

Zwei Reiter: Hl. Georg und hl. Martin

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Hl. Georg
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Hl. Martin
Paul Abadie (1812-1884), der selbst aus Angoulême stammte, hat die Kathedrale im 19. Jahrhundert umfassend restauriert und dabei manchmal seiner Phantasie konstruktiv-freien Lauf gelassen. Die oberen Turmgeschosse und der Dreiecksgiebel stammen von ihm und auch die beiden Reiterskulpturen und das Tympanon des Hauptportals sind seine Zutaten. Die Reiter stellen populäre Heilige dar, links rettet Georg die jungfräuliche Prinzessin und tötet den Drachen und rechts teilt Martin seinen schönen Offiziersmantel mit einem frierenden Bettler. Ach ja, ...

Die Portale

Scheinbar sind fünf Portale vorhanden, doch nur das mittlere führt in die Kirche. Die vier anderen sind Scheinportale, in der Region häufig vorkommende Architekturelemente. Alle Portale sind mit Säulenstellungen und Tympana aufwändig bildhauerisch geschmückt.

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Schauen wir uns zunächst Details am Hauptportal an:

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Das Tympanon des Hauptportals mit dem thronenden Christus stammt, wie bereits erwähnt, aus dem 19. Jahrhundert von Paul Abadie. Original dagegen sind die vier Tympana und Friese der Scheinportale. Hier begegnen uns ein weiteres Mal die zwölf Apostel, bevor sie auf Missionsreise in die Welt gehen.
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Die Bögen und die Friese unter den Aposteln sind prachtvoll gestaltet. Neben Ornamenten, Pflanzen, Tieren und  Fabelwesen sind die figürlichen Darstellungen besonders bemerkenswert. Höhepunkte sind hier zweifelsohne rechts die  Darstellungen einer Jagd- und einer Kampfszene, wobei die Kunsthistoriker bis heute rätseln, um was für einen Kampf es sich hier handelt. Vielleicht haben Sie ja eine Idee!

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Details vom Fries am linken Scheinportal

Reiterkampf:

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Details vom Fries am rechten Scheinportal

Was mag der Fries also darstellen? Ist es die Illustration zu einer Sage? Vielleicht zum populären Rolandslied? Oder stellt es die Eroberung einer Stadt oder Burg dar? Eine Episode der Kreuzzüge? Schade, dass wir heutigen nicht mehr wissen, um was es sich handelt...

Der Innenraum

Der Innenraum empfängt uns übersichtlich und aufgeräumt. Das einschiffige Langhaus wird von drei Kuppeln überwölbt, die Vierung mit der Hauptkuppel und die Ostpartien sind Rekonstruktionen des 19. Jh. von Abadie. Die östlichen Teile waren während der französischen Revolution zerstört worden. Kuppelkirchen sind eine Besonderheit, denn sie vermitteln einen speziellen Raumeindruck. Diese Kuppelkirchen sind im südlichen Frankreich (z. B. Perigord) nicht ungewöhnlich.

Angoulême, Innenansichten der Kathedrale St-Pierre
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Türme, Kuppel und Chor

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Fries am Chorhaupt
Mögen auch die Meinungen über Abadies Rekonstruktionen (das obere Geschoss der Westtürme, die Kuppel und die Chorpartien gehören dazu) auseinandergehen, so passen die Ergänzungen doch recht gut in den überkommenen originalen romanischen Baukörper. Dadurch bietet eben nicht nur die Westfassade sondern auch die Ansicht von Osten auf Chorhaupt, Kuppel und Glockenturm einen wundervoll inspirierenden Anblick.

Angoulême, Kathedrale St-Pierre
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"Die eigentliche Bedeutung von Angoulême besteht (...) darin, ein sehr frühes Beispiel für die im Laufe des 12. Jahrhunderts immer umfangreicher werdenden skulpturalen Programme an Sakralbauten zu sein. Diese mussten nicht mehr auf das oder die Portale derselben beschränkt bleiben, sondern konnten sich jetzt auch (...) über die gesamte Westfassade ausbreiten." (1)


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Quellen und Buchtipps:
(1) Christoph Brachmann, Das Mittelalter, wbg Architekturgeschichte, Bd.2, Darmstadt 2018
(2) Thorsten Droste, Das Poitou, DuMont Buchverlag, Köln 1993
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nach Aulnay