Gotische Portale und Kapitelle in Lissabon - Teil 2


Kirche und Kreuzgang des Hieronymitenklosters in Belém, Lissabon


Etwa 70 Jahre lang wurde an dem berühmten Klosterkomplex gebaut, und obwohl fünf verschiedene Architekten an dem Bauwerk schufen, wirkt die Anlage mit dem unglaublichen Formenreichtum in ihrer phantasievollen Ausgestaltung doch sehr einheitlich.

Klosterkirche Sta. Maria

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Sta. Maria, Hieronymitenkloster Lissabon, Innenraum nach O
Der Innenraum der der Muttergottes Maria geweihten Klosterkirche gehört mit zu den schönsten Kircheninnenräumen überhaupt. Die weite dreischiffige Hallenkirche misst 90 Meter in der Länge und ist 27 Meter breit. Das Querhaus tritt im Grundriss wenig hervor. An der Nord- und Südseite des Querhauses befinden sich in den Kapellenanbauten die Grablegen der portugiesischen Könige. Der Altarraum im Osten unterscheidet sich dagegen stilistisch deutlich von dem Kirchenraum, der spätere Bau wurde erst 1572 von Catarina, der Frau Joaos III., gestiftet.

Im Innern der Kirche und insbesondere von der Westempore öffnen sich stets neue phantastische Ansichten der bewunderungswürdigen Konstruktion: Aus den "schlanken achteckigen Säulen öffnen sich die Rippen wie Palmenblätter", um das Netzgewölbe zu stützen. (Burmeister, 1)

Innenraum der Klosterkirche St. Maria, Lissabon
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Sta. Maria, Hieronymitenkloster Lissabon, Innenraum nach SW
"Die Vollendung des Stützsystems und die einzigartige, den ganzen Raum zusammenschließende Wölbung erfolgte nach 1517 durch Joao de Castilho (ca. 1475-1552), einem aus Spanien stammenden Architekten und Bildhauer, der zu allen wichtigen Aufträgen Manuels herangezogen wurde. Das komplizierte Netzgewölbe des Langhauses wird von sechs achteckigen, 25 Meter hohen und völlig mit Renaissance-Ornament überzogenen Pfeilern getragen, das des Querhauses ist völlig freitragend. Die Konstruktion dieses Raumes ist ästhetisch wie statisch eine Meisterleistung, sie überstand selbst das große Erdbeben von 1755 unbeschadet." (Borngässer, 2)


Quellen:
1) Hans-Peter Burmeister, Portugal, DuMont Kunstreiseführer,
2) Barbara Borngässer: Architektur der Spätgotik in Spanien und Portugal, in: Rolf Toman (Hrsg.): Gotik, Ullmann & Könemann, 2007


Der Kreuzgang des Mosteiro dos Jerónimos


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Der um 1517 nach den Plänen von Boytac begonnene, aber im Wesentlichen von Joao de Castilho errichtete Kreuzgang wurde gegen 1544 vollendet. An der Schwelle von der Gotik zur Renaissance gilt die Anlage als Höhepunkt der manuelinischen Architektur. Der Kreuzgang um den quadratischen Innenhof ist zweigeschossig, jeder Flügel besteht aus sechs mit aufwändigen Netzgewölben versehenen Jochen von denen sich je vier zwischen den mächtigen Pfeilern zum Hof öffnen. Eine Besonderheit stellen die diagonal mit großen Bögen verbundenen Ecken dar: Dadurch wird der Innenhof harmonisch gerundet bei freiem Blick auf die inneren Eckpfeiler. Pfeiler und Wandflächen sind üppig dekoriert.

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Barbara Borngässer schreibt:
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"Während im Inneren des Kreuzganges spätgotische Formen überwiegen, treten an den dem Hof zugewandten Seiten die wohl von Castilho eingeführten plateresken Elemente der Dekoration in den Vordergrund. Flächenüberspannende Ornamentik und in die Arkaden eingestellte und mit Maßwerk verzierte Säulenstellungen lösen den Bau in filigrane Strukturen auf. Der Gesamteindruck mit der gleichmäßigen Abfolge der Rundbögen und der Betonung der Horizontalen weist bereits in Richtung Renaissance (...) Wie im Kirchenraum verbinden sich spätgotische Strukturen mit Renaissance-Ornamenten, figürliche Darstellungen mit emblematischen Motiven wie dem Kreuz der Christusritter, der Armillarsphäre sowie Wappen. Der ästhetische Reiz dieses Ensembles ist offensichtlich, sein ikonologisches Programm jedoch längst nicht entschlüsselt." (3)
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(3) Barbara Borngässer: Architektur der Spätgotik in Spanien und Portugal, in: Rolf Toman (Hrsg.): Gotik, Ullmann & Könemann, 2007, S. 296

Im Kreuzgang des Hieronymitenklosters, Lissabon
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Von diesem ästhetischen Reiz profitiert auch ein gewisser "Marquis de Venosta" (auch bekannt unter dem Namen Felix Krull), der an ebendiesem Ort versucht, mit Zouzou, der reizenden Tochter des Professors Kuckuck, ein zuvor harsch unterbrochenes Gespräch über den "...Kuß, dem zartesten Austausch der Welt, stumm und lieblich wie eine Blume!" fortzusetzen. Es ist nicht ganz einfach, Zouzou herumzukriegen, doch lesen Sie selbst, wie der "Marquis" die Schönheit des Kreuzganges für sich zu nutzen weiß.

Thomas Mann hat die Bekenntnisse dieses "Marquis" für uns aufgeschrieben:

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"(Der) Augenblick kam, (...) als wir dann endlich (...) dem berühmten, von einem so frommen wie prunkliebenden König, Emanuel dem Glücklichen, zu Ehr und Andenken der einträglichen portugiesischen Entdeckungsfahrten errichteten Kloster Belem, das heißt: Bethlehem, unseren Besuch abstatteten. Offen gestanden gingen mir Dom Miguels Belehrungen über den Baustil der Schlösser und des Klosters und was sich da an Maurischem, Gotischem, Italienischem, mit einer Zutat sogar von Nachrichten über indische Wunderlichkeiten zusammengemischt hatte, wie man zu sagen pflegt, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.
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Ich hatte an anderes zu denken, nämlich wie ich der kruden Zouzou die Liebe begreiflich machen könnte, und für das menschlich beschäftigte Gemüt ist, so gut wie die landschaftliche Natur, auch das kurioseste Bauwerk nur Dekoration, nur obenhin beachteter Hintergrund eben fürs Menschliche. Dessenungeachtet muß ich doch eintragen, daß die unglaubliche, aus der Zeit fallende und in keiner bekannten wirklich angesiedelte, wie von einem Kinde erträumte Zauberzierlichkeit des Kreuzganges von Kloster Belem, mit seinen Spitztürmchen und fein-feinen Pfeilerchen in den Bogennischen, seiner gleichsam von Engelshänden aus mild patinierten weißem Sandstein geschnitzten Märchenpracht, die nicht anders tat, als könne man mit dünnster Laubsäge in Stein arbeiten und Kleinodien durchbrochenen Spitzenzierats daraus verfertigen - daß, sage ich,
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diese steinerne Féerie mich wahrlich entzückte, mir den Sinn phantastisch erhöhte und bestimmt nicht ohne Verdienst an der Vortrefflichkeit der Worte war, die ich an Zouzou richtete.

Wir (...) verweilten nämlich ziemlich lange in dem Kreuzgang, umwandelten ihn wiederholt (...)

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»Nun, Zouzou«, sagte ich, »ich meine, für die Baulichkeit hier schlagen wohl unsere Herzen im gleichen Takt. So etwas von Kreuzgang ist mir noch nicht vorgekommen.« (Mir war überhaupt noch kein Kreuzgang vorgekommen, der erste aber, den ich sah, war nun gleich ein solcher Kindertraum.) »Ich bin sehr glücklich, ihn mit Ihnen zusammen in Augenschein zu nehmen. Verabreden wir uns doch, mit welchem Wort wir ihn loben wollen! 'Schön?' Nein, das paßt nicht, obgleich er natürlich nichts weniger als unschön ist. Aber 'schön', das Wort ist zu streng und edel, finden Sie nicht? Man muß den Sinn von 'hübsch' und 'reizend' ganz hoch hinauf, auf seinen Gipfel, aufs Äußerste treiben, dann hat man die rechten Lobesworte für diesen Kreuzgang. Denn er tut das selbst. Er treibt das Hübsche aufs Äußerste.«
»Da schwätzen Sie wohl, Marquis.« (...)

... und nun versucht der "Marquis", den Unterschied zwischen 'schön' und 'hübsch' zu klären...

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»Sie dagegen, Zouzou, sind das Hübsche und Reizende in Perfektion und auf seinem Gipfel. Sie sind wie dieser Kreuzgang...«
»Oh, danke! Ich bin also ein Mädchen im König-Emanuel-Stil, ich bin eine kapriziöse Baulichkeit. Vielen vielen Dank. Das nenne ich Courschneiderei.«
»Es steht Ihnen frei, meine innigen Worte ins Lächerliche zu ziehen, sie Courschneiderei zu nennen und sich selbst eine Baulichkeit. Aber es darf Sie doch nicht wundern, daß dieser Kreuzgang es mir so antut, daß ich Sie, die Sie's mir ebenfalls angetan haben, mit ihm vergleiche. Ich sehe ihn ja zum ersten Mal. Sie haben ihn gewiß schon öfters gesehen?«
»Ein paarmal, ja.«
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»Da sollten sie sich freuen, daß sie ihn einmal in der Gesellschaft eines Neulings sehen, dem er ganz neu ist. Denn das erlaubt einem, das Vertraute mit neuen Augen, den Augen eines Neulings, zu sehen, wie zum ersten Mal. Man sollte immer versuchen, alle Sachen, auch die gewöhnlichsten, die ganz selbstverständlich dazusein scheinen, mit neuen erstaunten Augen, wie zum ersten Mal, zu sehen. Dadurch gewinnen sie ihre Erstaunlichkeit zurück, die im Selbstverständlichen eingeschlafen war, und die Welt bleibt frisch; sonst aber schläft alles ein, Leben, Freude und Staunen. Zum Beispiel die Liebe...«
»Fi donc! Taissez-vou!«
»Aber warum denn? Sie haben ja auch über die Liebe gesprochen...«

Der "Marquis" spricht jetzt intensiv und sehr lange über die Liebe... und ist am Ende von seinen eigenen Worten begeistert:

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...bei meiner Ehre schwöre ich: so sprach ich. Denn es strömte mir zu. Es mag zum Teil aufs Konto der extremen Hübschheit und völligen Eigenart des Kreuzganges von Belem zu setzen sein, den wir umwandelten, daß mir eine so originelle Rede gelang; dem sei wie ihm sei. Auf jeden Fall sprach ich so, und da ich geendet, geschah etwas ungemein Merkwürdiges. Zouzou nämlich gab mir ihre Hand!"
Und wenn Sie nun wissen möchten, ob der Hochstapler bei der jungen Zouzou tatsächlich zum Zuge kam - dann sollten sie zum Buch greifen! Dessen Lektüre ist ein echter Hochgenuss!

zitiert aus:
Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Fischer Taschenbuch Verlag, 49. Auflage 2007, S. 373 ff.


Soweit also aus dem Bericht des "Marquis de Venosta". Man möchte sich als Tourist heute wünschen, so wie er, den wundervollen Kreuzgang mehrmals in aller Ruhe umrunden zu können...

Im Kreuzgang und Refektorium des Hieronymitenklosters, Lissabon
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Wird fortgesetzt!
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Lissabon - Teil 3